Selbst dicke Männer mit Bart und beginnender Glatze waren einmal kleine Jungs. An der Hand ihrer lieben Omi sind sie vorsichtig über Wegkanten balanciert. Der Weg dieses Jungen verläuft  durch Wandlitz. Die Großmutter ist Bildungsministerin Margot Honecker. Und der Opa, der am offenen Feuer Würste grillt, wie er es bei den Jung-Spartakisten gelernt hat, der mächtigste Mann der DDR.

Als die DDR sich auflöst, ist Roberto Yáñez gerade 15 Jahre alt. Er ist der Sohn der Tochter der Honeckers Sonja und ihres Mannes, eines chilenischen Emigranten. Jetzt hat er mit Unterstützung des Filmemachers und Publizisten Thomas Grimm seine Erinnerungen aufgeschrieben. Sie gewähren Einblick in die Welt der einst Mächtigen und zeigen einen Menschen, der seit dem Tod seines zweijährigen Schwesterchens Mariana 1988 auf der Suche nach sich selbst gewesen ist.

Eben ist man noch der Held, weil man dafür sorgt, dass die Kumpels vor dem ZK-Gebäude bolzen dürfen. Und plötzlich raunt ein Klassenkamerad im Vorbeigehen „dein Opa ist ein Arschloch“, die Großeltern wohnen nicht mehr in Wandlitz, sondern im Pfarrhaus von Lobetal, und während man sie besucht, skandieren draußen Demonstranten „Hängt ihn auf!“ Die größere Hälfte des Buches behandelt Kindheitserinnerungen und das Ende der DDR, die kleinere das Leben der Familie in Chile. Das Private berührt dabei immer das Politische: Vielleicht findet die Abneigung Honeckers gegenüber der Perestroika ja ihren Anfang, als er von Tschernobyl nicht durch Gorbatschow, sondern aus den Westmedien erfährt. Als es in den Läden keine Hose für Roberto gibt, weil die meisten Hosen in den Export gehen, lässt der Staatsratsvorsitzende eine Million Kinderhosen aus der Bundesrepublik reimportieren.

Vor allem ist das Buch aber eine Bilanz der Beziehung zu Margot Honecker. Als Ministerin sieht sie in ihrem Enkel bereits einen kommenden Politiker, was zur Entfremdung zwischen Mutter und Großmutter beiträgt. Als junger Erwachsener sieht er sich von der starrsinnigen Greisin in Geiselhaft für das DDR-Erbe genommen.

1990 gehen Yáñez’ Eltern mit ihm nach Chile. Auch dieses Land befindet sich nach der Abwahl Pinochets im Übergang von einer Diktatur zur Demokratie. Die Familie hat kaum Geld. Sein Vater versucht, ein Einkommen als Spirituosenhändler zu finden. Dass Roberto die Deutsche Schule besuchen kann, ist angesichts des Schulgelds von mehreren tausend Dollar pro Jahr nur durch ein Stipendium der bundesrepublikanischen Botschaft möglich. Im Unterricht wird die Zahl der Mauertoten gelehrt; die Opfer Pinochets sind kein Thema. Yáñez’ Eltern trennen sich, Roberto experimentiert mit Drogen, kommt zehn Jahre nicht davon los und findet durch surrealistische Literatur, durch Malerei und Musik wieder zu sich. Bis zum Tode Margot Honeckers 2016 lebt er mit ihr zusammen in ihrem Häuschen in einem kleinbürgerlichen Viertel, für ihn das letzte Territorium der DDR. Die Wohngemeinschaft mit der Großmutter, die bis zuletzt an ihren Überzeugungen festhält, ist für ihn auch ein Gefängnis. Der Tod seiner Großmutter ist für ihn wie der Fall der Mauer: “Ich war der letzte Bürger der DDR.” Sein Zuhause ist jetzt endgültig Chile.

Sind liebende Großeltern nur ein weiterer Hinweis auf Hannah Arendts “Banalität des Bösen”? Wer erbt Schuld, wer muss sie sühnen? Kein Buch mit großen literarischen Sätzen. Aber eines für die großen moralischen Fragen, denen mit Anekdoten nicht beizukommen ist.

Erschienen ist das Buch im Insel-Verlag. Es hat 255 Seiten und kostet 20 Euro.


Siehe auch
: Winter in der Waldsiedlung Wandlitz

 

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